Strom zum Kochen und zum Autofahren

Batterien von Elektroautos als Zwischenspeicher für Solarstrom? Das ist in einem Basler Quartier seit letztem Herbst Realität. Ein Bericht über die technischen und organisatorischen Herausforderungen dieses innovativen Pilotprojekts.

  • Nelly Jaggi, Redaktorin
  • 27. Oktober 2021
Die Photovoltaik-Module auf den Dächern der Neubausiedlung in Basel liefern um die Mittagszeit am meisten Strom. Die Batterien der beiden Autos speichern ihn für den Abend – und fürs Fahren.
Bild: Peter Burri - Vistadoc


Die Bewohnerinnen und Bewohner des Basler Areals Erlenmatt Ost haben sich den Grundsätzen der 2000-Watt-Gesellschaft verschrieben. Sie decken den Strom- und Wärmebedarf mittels Photovoltaik-Anlagen und Wärmepumpen. Der produzierte Strom wird für den Haushalt verwendet – aber speist auch zwei Elektroautos, die als Carsharing- Angebot zur Verfügung stehen.

Das Pilotprojekt geht noch einen Schritt weiter: Dank bidirektionaler – also zweiseitig funktionierender – Ladesysteme können die Autobatterien nicht nur ge-, sondern auch entladen werden. Kommt es bei guten Bedingungen zu einer Überproduktion von Strom, dienen sie als Zwischenspeicher. Bei Bedarf – zum Beispiel abends oder bei Schlechtwetter – kann der Strom zurück ins Netz des Areals gespeist werden.

Was in Erlenmatt Ost seit letztem Herbst auf Herz und Nieren getestet wird, zahlt sich in vielerlei Hinsicht aus. Überschüssiger Solarstrom kann gespeichert und später selbst genutzt werden. Er muss also nicht zu einem tiefen Preis an den lokalen Energieversorger verkauft werden. Gerade energieeffiziente Gebäude verbrauchen heute oft weniger Strom, als sie produzieren. Gleichzeitig eignen sich Autobatterien gut als Zwischenspeicher. Nicht zuletzt profitieren die Bewohnerinnen und Bewohner von einem umweltverträglichen Carsharing- Angebot auf Solarstrom-Basis.

Schweizweite Premiere

Initiantin des Pilotprojekts ist novatlantis – die gemeinnützige Gesellschaft für Nachhaltigkeit und Wissenstransfer. Für Geschäftsführerin Anna Roschewitz ist es ein Glücksfall: «Das Thema ist auf mehreren Ebenen komplex. Es verbindet den Sektor Gebäude mit dem Sektor Mobilität. Das ist nicht einfach, weil die jeweiligen Fachleute häufig verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Ziele verfolgen.» In Erlenmatt Ost wollen alle Beteiligten dasselbe: Ein innovatives Projekt realisieren, das in Zukunft auf andere Areale übertragbar ist.


Geteilt genutztes Elektroauto – betrieben mit Solarstrom: Anna Roschewitz neben dem Nissan Leaf in Erlenmatt Ost.

Bild: novatlantis

«Es ist das allererste Mal, dass ein solches Projekt in der Schweiz umgesetzt wird. In der Theorie sprechen viele davon – die praktischen technischen und organisatorischen Probleme müssen dafür aber auch gelöst werden», sagt Roschewitz. Und dahinter steckt hohes Engagement, ein gemeinsamer Wille und auch viel Arbeit für die beteiligten Fachleute im Projektkonsortium, bestehend aus novatlantis, der ADEV Energiegenossenschaft, der Smart Energy Control GmbH, der Stiftung Habitat, der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und dem Amt für Umwelt und Energie des Kantons Basel-Stadt.

Bedürfnisse der Bewohnenden

Um die Gebäudetechnologie mit den Elektrofahrzeugen zu koppeln, braucht es einerseits spezielle Ladestationen auf Gleichstrombasis – eine kostspielige Angelegenheit, in Europa gibt es zurzeit einen einzigen Hersteller. Andererseits müssen die Autos nicht nur ge-, sondern auch entladen werden können – eine Technologie, die sich bisher nur in China und Japan durchgesetzt hat, wie Andreas Appenzeller von der ADEV Energiegenossenschaft erklärt. Das macht die Auswahl an Fahrzeugen überschaubar.


«War vor fünf Jahren noch eine Kapazität von 20 Kilowattstunden Standard, sind es heute bereits 40 Kilowattstunden, und sie wird in den nächsten Jahren weiter steigen»
Andreas Appenzeller

Der Entscheid fiel auf einen Nissan Leaf und den 7-Plätzer Nissan ENV200 Evalia. In Erlenmatt Ost gibt es pro zehn Wohnungen nur einen Parkplatz, und die beiden Autos sind die einzigen Carsharing- Angebote innerhalb der Siedlung. Sie sollen die unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse so breit wie möglich abdecken.

Erst eine spezielle Software macht es möglich, dass die Autos gebucht, die Kosten abgerechnet werden können und sie jederzeit genügend geladen sind. Eine vollständige Ladung nimmt zwei Stunden in Anspruch, die zwei Ladestationen verfügen je über eine Leistung von 20 Kilowatt. Die Entladeleistung beschränkt sich herstellerbedingt auf 10 Kilowatt. Die Software stellt sicher, dass die Autobatterien nie ganz entladen werden. Welche minimale Reichweite garantiert werden muss, um den Komfort der Anwenderinnen und Anwender möglichst nicht einzuschränken, eruieren Appenzeller und sein Team momentan.

Ängste abbauen

«Die Autobatterien haben sich in den letzten Jahren entwickelt. War vor fünf Jahren noch eine Kapazität von 20 Kilowattstunden Standard, sind es heute bereits 40 Kilowattstunden, und sie wird in den nächsten Jahren weiter steigen», sagt Appenzeller. Wird abends Strom in haushaltsüblichen Mengen verbraucht, können am nächsten Tag noch viele Kilometer gefahren werden. Völlig unbegründet ist gemäss Appenzeller auch die landläufige Befürchtung, der zusätzliche Gebrauch wirke sich negativ auf die Lebensdauer der Batterien aus: Verkürzend wirkt sich vielmehr ein Nichtgebrauch aus.

Kopfschmerzen bereiten dem Projektkonsortium hingegen die Ängste potenzieller Nutzerinnen und Nutzer. Zwar ist der Kreis der Interessierten gross – bis Ende 2019 werden über 300 Menschen in Erlenmatt Ost leben –, doch in den ersten Wochen wurden die Autos im Schnitt nur zwei Mal wöchentlich gebraucht und am Abend praktisch nie. «Die Bewohnerinnen und Bewohner befürworten zwar Elektroautos, gewohnt sind sie aber Benziner», erklärt sich Appenzeller diese Zurückhaltung. Spezielle Vorführung vor Ort und Workshops sollen nun Gegensteuer bieten.

Berührungsängste hatte auch Erlenmatt- Bewohner Roger Ruch. «Als ich zum ersten Mal den Startknopf des Nissan Leaf gedrückt habe, ist nichts passiert. Also habe ich ihn ein zweites Mal gedrückt – und das Auto gleich wieder abgeschaltet», erzählt er und lacht. Aber Übung macht den Meister, Ruch hat inzwischen gelernt, das Fahrzeug korrekt zu bedienen, und ist vom Angebot begeistert. Weil die Autos in der Tiefgarage direkt unter dem Haus stehen – gerade bei Transporten ein gewichtiger Vorteil gegenüber anderen Carsharing- Angeboten. Und weil sie mit erneuerbarem Strom fahren.

In China und Asien Standard

Im laufenden Jahr will das Projektkonsortium nun eruieren, wie das Optimum aus dem System herausgeholt werden kann – etwa über die Preisgestaltung. Es hat sich zum Ziel gesetzt, die Erkenntnisse anderen autofreien oder autoarmen Siedlungen zur Verfügung zu stellen. Es gibt Interessenten, aber auch dort spürt Appenzeller Zurückhaltung: «Man muss sehr viel erklären, viele wollen zuerst die Resultate abwarten.» Während es auch in anderen europäischen Ländern erst wenige vergleichbare Projekte gibt, ist das Prinzip der zweiseitig funktionierenden Ladesysteme in China und Japan bereits heute Standard. In der chinesischen Metropole Shenzhen sind alle 16 000 öffentlichen Busse mit bidirektional ladefähigen Batterien unterwegs.



Dieser Text wurde im März 2019 in der Auto-Umweltliste publiziert. In einer leicht anderen Fassung ist er erstmals im VCS-Magazin 4/2018 unter dem Titel «Heizen, kochen, Auto fahren ...» erschienen.