Martin Röösli, was gilt als Lärm?
Lärm ist definiert als unerwünschtes Geräusch. Das beinhaltet
immer eine Wertung: Der Autoposer, der das Gaspedal durchdrückt, empfindet das
Geräusch als Sound. Fahre ich daneben auf dem Velo, empfinde ich es als Lärm.
Wie entscheidend ist die Lautstärke?
Der Pegel spielt eine grosse Rolle. Aber auch andere Faktoren stören:
Hat man den Lärm selber unter Kontrolle? Kommt er unerwartet? Letzteres könnte
erklären, warum Fluglärm bei gleichem Pegel als viel störender empfunden wird
als Bahn- oder Strassenlärm. Eine Hypothese in Bezug auf den Fluglärm ist zudem,
dass Lärm als bedrohlicher wahrgenommen wird, wenn er von oben kommt. Und Lärm
ist störender, je mehr so genannte Informationen er enthält: Stimmen, bei denen
man Wörter heraushören kann, stören tendenziell mehr, als Geräusche, die als
Rauschen wahrgenommen werden.
Laut Bundesamt für Umwelt sind in der Schweiz 1,1 Millionen
Menschen tagsüber und eine Million nachts schädlichem oder lästigem Strassenlärm
ausgesetzt. Welche Kriterien gelten, damit Lärm als schädlich oder lästig gilt?
Diese Zahlen beziehen sich auf den Immissionsgrenzwert: Die Betroffenen
sind Werten ausgesetzt, die diesen Grenzwert überschreiten. Aber recht viele
Leute fühlen sich unterhalb der Grenzwerte belästigt und auch gesundheitliche Auswirkungen
treten unterhalb der Grenzwerte auf. Neue Studien zeigen, dass es für die
Gesundheit keine untere Schwelle gibt. Das Risiko steigt über den ganzen
Bereich mit zunehmendem Lärm kontinuierlich an. Jede Lärmreduktion, auch
unterhalb vom Grenzwert, ist also ein Vorteil für die Gesundheit.
Gesundheitliche Auswirkungen
treten auch unterhalb der Grenzwerte auf.
Von welchen gesundheitlichen Folgen sprechen wir?
Am besten untersucht sind Auswirkungen auf das
Herz-Kreislauf-System, weiter gibt es zunehmend Hinweise auf Diabetes und
Übergewicht. Das klingt im ersten Moment vielleicht überraschend. Aber Lärm ist
ein Stressfaktor: Bei einer Stressreaktion steigen Puls und Blutzucker an, um Energie
zum Fliehen oder Kämpfen freizusetzen. Sind diese Werte dauerhaft erhöht, kann
das langfristig Diabetes verursachen. Chronischer Lärm beeinflusst zudem die
Lebensqualität und kann zu Depressionen führen. Die subjektive Lärmbelästigung und
die Gesundheit sind übrigens unabhängig voneinander.
Lärm macht also auch krank, wenn man ihn nicht als störend
empfindet?
Viele denken, man könne sich an Lärm gewöhnen. Das stimmt nur
teilweise. Schläft man an einem ungewohnten Ort, wacht man oft wegen
unbekannten Geräuschen auf. Das ist gut, es könnte etwas passiert sein. Ist man
länger dort, wacht man nicht mehr auf. Doch die Gewöhnung ist nur scheinbar: Würde
man die Hirnwellen oder den Puls messen, hätte sich nichts verändert, denn das
Ohr schläft nie.
Unterscheidet sich der Effekt von Fluglärm mit den
Lärmspitzen gegenüber dem Effekt vom eher gleichmässigen Strassenlärm?
Das würde man erwarten. In unseren Studien haben wir das aber
nicht konsistent gesehen. Für Herzkreislauferkrankungen sind die Zusammenhänge mit
Strassenlärm am stärksten und mit Fluglärm interessanterweise am geringsten.
Also genau umgekehrt zur Lärmbelästigung. Ein möglicher Grund ist, dass die
Effekte aufgrund einer gewissen Nachtflugsperre in der Schweiz geringer sind. Auf
Diabetes und Lebensqualität hat Fluglärm hingegen eher stärkere Einflüsse als
Strassenlärm. Da spielt vielleicht der Lärm am Tag eine wichtigere Rolle. Was
wir ebenfalls gesehen haben: Bei Lärmspitzen können akut Todesfälle auftreten. Wer
sich sehr ärgert, kann einen Herzinfarkt erleiden. Fluglärm kann einen
ähnlichen Effekt haben.
Kommen wir nochmal zurück zu den Grenzwerten. Wie werden sie
berechnet?
Die jetzigen Grenzwerte in der Schweiz stammen aus den
80er-Jahren. Es wurde betrachtet, ab welchem Pegel sich ein substanzieller
Anteil der Leute belästigt fühlt. Gesundheitsstudien gab es damals praktisch
keine. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat vor vier Jahren die
gesundheitlichen Wirkungen systematisch erhoben: Sie hat festgelegt, wie viel
Risiko für verschiedene Gesundheitseffekte akzeptabel ist. Zum Beispiel darf
das Risiko für eine Herzerkrankungen durch Lärm um nicht mehr als fünf Prozent
ansteigen. Das ergibt beim Strassenlärm einen gewichteten Durchschnittspegel über
24 Stunden von 53 Dezibel, was tagsüber einem Wert von 51 Dezibel und nachts 45
Dezibel entspricht. Beim Fluglärm liegt der WHO-Richtwert aufgrund der grossen
Störwirkung etwas tiefer – 40 Dezibel in der Nacht und 43 Dezibel am Tag.
Die jetzigen Grenzwerte in der Schweiz stammen aus den
80er-Jahren.
Welchen Unterschied macht der Ort der Lärmbelastung aus?
Wir kennen in der Schweiz vier Empfindlichkeitszonen: Die Zone
1 ist sehr lärmempfindlich und gilt als Erholungszone. Die meisten Orte liegen
in den Zonen 2 und 3, wobei Zone 2 reine Wohnzone und Zone 3 eine gemischte
Zone ist. Zone 4 ist Industriegebiet. Der Strassenlärmgrenzwert in Zone 3
beträgt 65 dB am Tag und 55 dB in der Nacht. In Zone 2 sind die Grenzwerte je 5
Dezibel tiefer, aber immer noch deutlich höher als von der WHO vorgeschlagen.
Sie sind Mitglied der Eidgenössischen Kommission für
Lärmbekämpfung. Das Fachgremium hat im Dezember 2021 in einem Bericht
empfohlen, die Lärmgrenzwerte für Strassen-, Eisenbahn- und Fluglärm in der
Schweiz zu verschärfen. Konkret geht es nur um wenige Dezibel, warum macht das
einen Unterschied?
Das klingt
nach wenig, aber drei Dezibel entsprechen physikalisch einer Halbierung des
Verkehrs. Und man darf nicht vergessen: Wird es nah an der Strasse um drei
Dezibel leiser, wird es auch weiter weg um drei Dezibel leiser. Dasselbe gilt
für den Flugverkehr: Fliegen nur noch halb so viele Flugzeuge oder fliegen sie
doppelt so weit entfernt, nimmt der Lärm ebenfalls um drei Dezibel ab.
Für den Flugverkehr schlagen Sie gar sechs Dezibel Lärmminderung
vor, das bedeutet also noch einmal eine Halbierung?
Ja, oder leisere Flugzeuge. Neu ist weiter, dass der Grenzwert
am Morgen während einer zusätzlichen Stunde eingehalten werden muss. Wacht eine
Person mitten in der Nacht wegen eines Ereignisses auf, ist sie in der Regel so
müde, dass sie gleich wieder einschläft. Erwacht jemand am Morgen, schläft er schlechter
wieder ein, weil der Schlafdruck nicht mehr so gross ist. Darum sind die
Morgenstunden besonders kritisch.
Als dritte Stossrichtung empfiehlt der Bericht, dass keine
Unterschiede mehr zwischen den Grenzwerten für Wohngebiete und gemischten Wohn-
und Gewerbezonen gemacht werden sollen.
Das ist eine Frage der Fairness: Wir sind der Meinung, dass
alle Wohngebiete denselben Schutz verdienen.
Welche weiteren wichtigen Empfehlungen macht der Bericht?
Bisher besagten die Richtlinien, der Lärm müsse in der Mitte
des offenen Fensters gemessen werden. So gab es natürlich Schlaumeier, die auf
Fenster verzichtet haben, um keinen Grenzwert einhalten zu müssen. Neu muss der
Grenzwert an der Stelle eines Gebäudes eingehalten werden, wo es den meisten
Lärm gibt.
Die Empfehlungen der Kommission sind an den Bundesrat
gerichtet. Wie sollte er Ihrer Meinung nach darauf reagieren?
Es ist wichtig, dass der Bundesrat dieses heisse Eisen anfasst.
In einem Bereich, in dem sich so viel verändert hat, ist es normal, nach 30
oder 40 Jahren über die Bücher zu gehen.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen bei der
Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen?
Es braucht eine gute Lösung, damit die Bevölkerung langfristig
vor Lärm geschützt wird, ohne dass absurde Einzelfälle entstehen. Letztlich ist
es wichtig, an der Quelle anzusetzen: Mit leichteren Autos und leiseren Pneus
könnte man viel erreichen. Die Technik ist vorhanden, aber es gibt zu wenig
Anreize. In Städten und Dörfern sind Temporeduktionen ein effektives Mittel.
Mit diesen drei Massnahmen lässt sich der Strassenlärm um 10 Dezibel reduzieren.
Das ist deutlich mehr als die geforderte Verschärfung der Grenzwerte.
Mit leichteren Autos und leiseren Pneus
könnte man viel erreichen.
Welche konkreten Massnahmen könnten für den Flugverkehr ergriffen
werden?
Dort ist es – auch aus anderen Gründen – in erster Linie einmal
wichtig, dass der Flugverkehr reduziert wird. Und wenn geflogen wird, dann mit
vollen Flugzeugen. Technisch gibt es Grenzen: die Flugzeuge sind bereits viel
leiser geworden.
Und was kann gegen lästigen Schienenlärm getan werden?
Es wurde bereits viel unternommen – das Anpassen der Bremsen
bei Güterzügen hatte einen grossen Effekt. Grundsätzlich ist das Potenzial an
der Quelle weniger gross. Weil das Gleis ein separater Korridor ist, den man
nicht kreuzt, ist die Installation von Lärmschutzwänden weniger problematisch. Bei
Strassen hingegen sind sie nur als letztes Mittel in Betracht zu ziehen, weil
sie den Raum unattraktiv machen. Den grössten Spielraum für Massnahmen an der
Quelle gibt es also beim Strassenlärm, der ja wirklich das Nummer-1-Problem ist.
Lärmexperte Martin Röösli ist privat gerne geräuscharm per Velo unterwegs.
Bild: zVg
Dieses Interview erschien erstmals im VCS-Magazin 2/2022.
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