«Wir haben noch fünf bis zehn Jahre»

Vaca Muerta – deutsch: «Tote Kuh» – gilt als eine der grössten Ölschiefer-Lagerstätten der Welt. Internationale Konzerne betreiben dort das umstrittene Fracking. Paul Horsman von Greenpeace Argentinien zu den Auswirkungen auf die Menschen und die Umwelt.

  • Interview: Danielle Müller, Greenpeace Schweiz
  • 31. Oktober 2021
Beim umstrittenen Fracking werden Wasser, Sand und Chemikalien in den Untergrund gepresst, um schwer zugängliches Erdöl oder Erdgas zu fördern. Dabei entstehen grosse Mengen giftiger Abfälle. Im Bild: Fracking-Bohrtürme in den USA.
Bild: Alamy/David Jennings


Paul Horsman, wie sieht die momentane Situation im argentinischen Landesteil Patagonien aus?

Das Ganze lässt sich gut mit dem Goldrausch im Wilden Westen vergleichen: Das Schwarze Gold zieht viele Arbeitsmigrantinnen und -migranten an. Prostitution, Gewalt, Drogen und Alkoholkonsum steigen stetig an, das Wohnungswesen, das Gesundheitssystem und die Schulen sind mit der Bevölkerungszunahme überfordert.

Hinzu kommt, dass Ölkonzerne Fracking unter anderem auf dem Land indigener Völker betreiben und damit deren Rechte auf Leben und ihre Kultur bedrohen und ihren Lebensraum zerstören. Aktuell werden in Patagonien ungefähr 1500 Bohrlöcher betrieben. Plänen der Regierung zufolge soll die Anzahl aber auf über 50 000 steigen.

Wer ist verantwortlich für das Fracking vor Ort?

Die Grösse des Rohstoffvorkommens zieht alle internationalen Ölkonzerne an. Dazu gehören unter anderem Shell, BP, ExxonMobil, Equinor (ehemals Statoil) und Total. Erst kürzlich hat Shell sogar angekündigt, die Ölproduktion bis 2025 von 4500 Fässern täglich auf 70 000 Fässer erhöhen zu wollen. Das allein würde 300 neue Bohrlöcher bedeuten.

Welche Auswirkungen hat die Rohstoffförderung auf die Umwelt?

Beim Fracking wird eine giftige Mischung aus Wasser, Sand und Chemikalien in den Untergrund gepresst, um Brüche im Gestein zu verursachen, aus denen Öl und Gas gefördert werden kann. Dieser Prozess hinterlässt eine Unmenge hochgiftigen Mülls und verschmutzten Wassers – pro Bohrloch 20 Tonnen täglich. Den Giftmüll laden die Ölfirmen in mangelhaften und teilweise illegalen Anlagen ab, wo er ins Grundwasser dringt und es verunreinigt.


«Aktuell werden in Patagonien ungefähr 1500 Bohrlöcher betrieben.»
Paul Horsman


Aber auch das Land, die Luft und folglich die Gesundheit der Bewohnenden werden durch Fracking massiv bedroht. Hinzu kommen Ölkatastrophen wie Explosionen, durch die Menschen sterben und die Umwelt zusätzlich verschmutzt wird.

Was unternimmt Greenpeace Argentinien gegen diese Umweltverschmutzung?

Wir arbeiten eng mit den lokal ansässigen Mapuche und anderen indigenen Völkern zusammen. Momentan reichen wir eine Beschwerde gegen Shell ein. Sie unterstützt eine ähnliche Klage der Mapuche. Wir haben ausserdem Nachforschungen betrieben, die den von Ölkonzernen verursachten Schaden am Menschen und der Umwelt aufdecken – unter anderem durch die illegale Entsorgung des Giftmülls durch die Unternehmen.

Was hoffen Sie, mit Ihrer Arbeit zu erreichen?

Wir möchten die extreme Ausbreitung der Öl- und Gasindustrie stoppen. Nicht nur, um das Leben der lokalen Gemeinschaften und die Umwelt zu schützen, sondern auch das globale Klima. Denn die Rohstoffreserven in Patagonien entsprechen 50 Gigatonnen CO2-Emissionen. Die würden verursacht, wenn die gesamten Vorkommen gefördert und verbrannt würden. Dadurch hätten wir keine Chance, das Ziel des Pariser Klimaabkommens von 1,5 bis maximal 2 Grad Celsius Erwärmung zu erreichen.

Was denken Sie: Wie lange braucht die Menschheit, um sich von fossilen Brennstoffen zu lösen?

Der aktuelle Report des Weltklimarats IPCC warnt, dass der globale Erdölkonsum bis 2030 um 37 %, jener von Erdgas um 13 % sinken muss, um die Erwärmungsschwelle von 1,5 bis 2 Grad nicht zu überschreiten – er empfiehlt, keinesfalls die Förderung fossiler Energieträger wie in Vaca Muerta weiter voranzutreiben. In anderen Worten: Wir haben noch fünf bis zehn Jahre, um etwas zu ändern.

Was können wir in der Schweiz tun, um Patagonien und anderen Fracking- Standorten zu helfen?

Sicherstellen, dass der Finanzplatz der Schweiz nicht die Förderung fossiler Brennstoffe und somit die Zerstörung Patagoniens und der Lebensgrundlage der Bevölkerung unterstützt, so wie es beispielsweise die Credit Suisse noch immer tut.

Was motiviert Sie, gegen Fracking in Patagonien weiterzukämpfen?

Ganz einfach: weil wir müssen. Alleine schon, um gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen, die den indigenen Völkern widerfährt, die bereits seit Tausenden von Jahren dort leben. Denn auch wenn sich die Öl- und Gasindustrie auf dem Rückzug befindet – es passiert nicht schnell genug.



Engagiert im Kampf gegen Fracking in Patagonien: Paul Horsman, Kampagnenleiter bei Greenpeace Argentinien.
Bild: Cristobal Olivares/Greenpeace


Dieses Interview erschien erstmals im Greenpeace- Magazin im Oktober 2019.

Der Boom der unkonventionellen Erdölförderung

Während «konventionelles» Öl (oder Gas) über Bohrtürme relativ einfach zu fördern ist, muss «unkonventionelles» Öl in der Regel mit höherem Aufwand gefördert werden. Das Öl ist z. B. in Gesteinsschichten gebunden. Diese müssen mit hohem Druck aufgebrochen werden. Oder es kommt in sandigen Sedimentablagerungen vor, die im Tagebau abgebaggert und aufbereitet werden müssen. Wegen des erhöhten Aufwands für die Förderung und Aufbereitung sind die Umweltfolgen schlimmer sowie die Kosten höher.

Das hindert jedoch Länder wie die USA, Argentinien, Brasilien und Kanada nicht daran, die Neuerschliessung und Gewinnung von Öl und Gas aus unkonventionellen Quellen zu forcieren. Die Tatsache, dass wir schon heute auf viermal mehr erschlossenen konventionellen Ölreserven sitzen, als wir gemäss Klimaabkommen von Paris aus dem Boden holen dürfen, ist ihnen egal – obwohl sie das Abkommen unterzeichnet haben.

Kurzfristige Wirtschaftsüberlegungen werden systematisch vor Umwelt- und Minderheitenschutz gestellt – inklusive der Rechte zukünftiger Generationen. Die Länder verteidigen ihre Prioritäten oft mit einer Logik des Trittbrettfahrens («wir alleine sind ja nicht zuständig»). Leider ist dies auch in der Schweiz immer wieder zu hören, wenn es darum geht, eine griffige Klimapolitik zu verhindern. Doch solange die Nachfrage nach Treibstoffen nicht markant zurückgeht, wird sich am Boom der unkonventionellen fossilen Energien wenig ändern.

Georg Klingler

Klimaexperte Greenpeace Schweiz


Dieser Text wurde erstmals im März 2020 in der Auto-Umweltliste publiziert


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