Dosenlärm für mehr Sicherheit

Lärm ist lästig und gesundheitsschädigend. In der Schweiz ist tagsüber jede siebte Person vom Strassenlärm betroffen, nachts jede achte Person. Leise Elektroautos sollen trotzdem gesetzlich verpflichtet werden, mehr Lärm zu machen.

  • Stéphanie Penher, Bereichsleiterin Verkehr und Kommunikation des VCS
  • 28. Oktober 2021
Hören, ob ein Auto kommt: Für Menschen mit Sehbehinderungen können Fahrgeräusche hilfreich sein.
Bild: Fotolia/Diego Cervo


Paukenschläge beim Anfahren und Vogelzwitschern beim Abbremsen: Weil Elektroautos bei geringem Tempo nahezu geräuschlos unterwegs sind, werden Forderungen nach künstlich erzeugten Warngeräuschen laut. In EU-Ländern ist ab Juli 2019 bei allen neu zugelassenen Hybrid- und Elektroauto- Modellen der Einbau eines Warngeräuschgenerators(Acoustic Vehicle Alert System) Pflicht.

Ab 2021 dürfen auch Neuwagen bestehender Modelle nur noch mit eingebautem Warngeräuschgenerator verkauft werden – Nachrüstungspflicht ist hingegen keine vorgesehen. Auf Schweizer Strassen sind geräuscharme Elektroautos noch deutlich in der Minderheit. Von den 4.6 Millionen Privatwagen waren Ende 2018 19 000 Elektroautos und 80 000 Hybridautos. Auch wenn die elektrischen Antriebssysteme leiser sind als herkömmliche Benzin- oder Dieselmotoren: Nahezu geräuschlos ist ein Elektroauto nur bei Geschwindigkeiten unter 20 km/h. Ist es schneller unterwegs, übertönt – wie bei allen Autos – das Reifengeräusch den Antriebslärm.

Nicht jeder Lärm warnt richtig

Bisher nicht vorgeschrieben ist der genaue Klang des künstlichen Lärms. Zwingend ist einzig, dass er auf das Fahrverhalten hinweisen muss: Beim Bremsen klingt er anders als beim Beschleunigen. Zudem werden die Geräusche einzelner Automarken unterschiedlich sein (markentypischer Sound) und voraussichtlich den herkömmlichen Motorengeräuschen ähneln.

Auf musikalische Analogien oder Tierstimmen zu verzichten, hat durchaus seine Berechtigung. Versuche mit Warngeräuschen, die an Raumschifflärm aus Science-Fiction-Filmen angelehnt waren, führten zu ungewollten Reaktionen: Die an den Tests beteiligten Fussgängerinnen und Fussgänger schauten in den Himmel statt auf die Strasse.

Mehr Sicherheit dank mehr Lärm?

Fest steht: Ein Motorengeräusch allein ist noch keine Sicherheitsgarantie. Ob ein Fahrzeug dank seiner Akustik früher wahrgenommen wird, hängt auch von den Umgebungsgeräuschen ab. Ein Fahrgeräusch hilft insbesondere Menschen mit Sehbehinderung, wenn sie die Strasse queren wollen oder wenn ein Auto aus einer Garageneinfahrt auf die Strasse einbiegt.

Bisher konnte in der Schweiz kein Nachweis dafür erbracht werden, dass ein höheres Unfallrisiko zwischen Elektrofahrzeugen und Fussgängerinnen sowie Velofahrern im Vergleich zu konventionell angetriebenen Fahrzeugen besteht. Erwiesenermassen haben folgende Massnahmen einen wesentlich höheren Nutzen: Fahrassistenzsysteme wie der Notbremsassistent – bei Geschwindigkeit von 20 km/h beträgt der Anhalteweg 3 Meter, der Reaktionsweg von 11 Metern entfällt – und Nachtsichtsysteme.

Positiv zu werten ist der Wegfall lauter Motorengeräusche beim schnellen Anfahren – was insbesondere auch der Nachtruhe entlang von Hauptverkehrsachsen und im Quartier zugutekommt. Die Lautstärke bleibt somit ein Kompromiss zwischen Lärmschutz und Sicherheit.

Lücken schliessen und Auswüchse verhindern

Wie sieht es in der Schweiz momentan aus? Es ist davon auszugehen, dass die Schweiz ihre Vorschriften denjenigen der EU anpasst. Die EU schreibt nicht vor, dass ein Elektroauto schon beim Start beziehungsweise bei Stillstand im Verkehr oder vor dem Losfahren von einem Parkplatz ein Geräusch abgeben muss. Zudem ist laut EU-Verordnung das Abschalten des Systems möglich.

Eine Problematik bleibt zudem bei der ganzen Diskussion ausser Acht: Autoliebhaberinnen und Autoliebhaber mit einer Affinität zu schnellen Motoren werden kaum mit den vorgeschriebenen moderaten Geräuschen vorliebnehmen. Deshalb sind bereits heute zusätzliche «angepasste Active-Sound- Lösungen für Motor- und Auspuffsound» mit unterschiedlichen Akustikstufen erhältlich – hin bis zu «extremem Boost».


Kommentar: Sorgfältige Abwägung nötig

Warte, luege, lose, loufe: Bisher war es selbstverständlich, dass man Autos hört. Dennoch wurden Strassen oft unbedacht betreten – mit Musik in den Ohren und ohne vorgängigen Kontrollblick, ob sich ein Fahrzeug nähert oder nicht. Dies führte teilweise auch zu (Beinahe-)Kollisionen von Zu-Fuss-Gehenden mit Velofahrenden. Diese Tatsache lässt Platz für die Frage, ob künstlich erzeugte Geräusche der richtige Weg sind.

Eine mögliche Fragestellung für die Forschung wäre, ob sich Menschen an neue, veränderte Situationen im Verkehr gewöhnen können. Hier müsste man einen passenden Übergang schaffen. Fakt ist: Der Mensch wird auch in Zukunft Fehler begehen. Eine akustische Warnung ist in diesem Sinne ein Beitrag für ein fehlertoleranteres Verkehrssystem. Für blinde und sehbehinderte Menschen ist es zudem der einzige direkt wahrnehmbare Hinweis auf ein sich näherndes Auto.

Die Anliegen des Lärmschutzes haben ebenso ihre Berechtigung wie die Verkehrssicherheit und die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse der sehbehinderten Menschen. Sie sollten sorgfältig gegeneinander abgewogen und zweckmässige Massnahmen evaluiert werden.


Dieser Text wurde erstmals im März 2019 in der Auto-Umweltliste publiziert.