Die Schweiz soll nach dem Willen des Bundesrats bis 2050 klimaneutral sein, das verlangt auch das Klimaabkommen von Paris. Dafür müssen wir uns von den fossilen Treibstoffen Erdöl und -gas verabschieden – die Fachwelt nennt dies Dekarbonisierung. Dafür gibt es zwei Ansätze: Entweder sparen wir Energie ein – oder wir ersetzen die fossilen durch erneuerbare Energien.
Dekarbonisierung heisst Elektrifizierung
Der zweitgenannte Ansatz bedeutet in der Praxis meist,
Anwendungen statt fossil neu elektrisch zu betreiben. Typische Beispiele sind
Wärmepumpen oder die Elektromobilität. Oft geht dies mit bedeutenden
Effizienzgewinnen einher: Elektromotoren verfügen über einen Wirkungsgrad von
rund 90 %, Verbrennungsmotoren gerade mal 20 %, der Rest verpufft als Abwärme.
Für das Klima ist entscheidend, woher der Strom stammt. Mit
Solar- und Windkraft stehen, nebst Wasserkraft, klimafreundliche und
kostengünstige, gesellschaftlich akzeptierte und rasch einsetzbare Technologien
zur Verfügung. Technisch ist die Dekarbonisierung somit machbar. Die Frage
lautet jedoch: Was braucht es politisch, um sie zu realisieren?
Europa auf dem Vormarsch
2018 hat die Europäische Kommission ihre Strategie
präsentiert, wie sie bis 2050 klimaneutral sein will, und ihre Absichten
bezüglich der erneuerbaren Energien bekundet. Zur Zielerreichung wurde Ende
2019 das Massnahmenpaket «europäischer Grüner Deal» beschlossen. Das
Etappenziel 2030 besagt, dass der erneuerbare Anteil am Strommix auf 57 %
anwachsen soll. Dieser Anteil steigt kontinuierlich und liegt heute bei rund
einem Viertel. Alleine in Deutschland wuchs der Anteil der erneuerbaren
Energien von 20 % im 2010 auf 42,6 % im letzten Jahr.
Windkraft spielt die entscheidende Rolle, aber auch bei der
Sonnenenergie nimmt der Ausbau exponentiell zu. Dies liegt einerseits am
anhaltenden Preiszerfall, andererseits am Abbau von Handelshemmnissen. Infolge
der Revision des europäischen Emissionshandelssystems verteuerten sich zudem
die CO2-Zertifikate. Das macht die fossile Verstromung unattraktiver, was sich
für sämtliche erneuerbaren Energieträger vorteilig auswirkt. Preislich sind
Solar- und Windstrom ihren fossilen Konkurrenten inzwischen weit überlegen.
Anreize für fossile Investitionen schwinden zunehmend.
Investitionen brauchen Sicherheit
Damit die erneuerbare Energieproduktion weiter ausgebaut wird,
braucht es die richtigen politischen Rahmenbedingungen. Europaweit herrscht ein
Strom-Überangebot. Die tiefen Preise bieten keine Investitionsanreize für neue
Kraftwerke – unabhängig der verwendeten Energiequelle. Bei den erneuerbaren
Energien kommt das Problem der schwankenden Einspeisung hinzu: Wenn europaweit
die Sonne scheint oder Wind weht, treibt die wetterbedingt gesteigerte
Produktion die Strompreise in den Keller.
Um Investorinnen und Investoren vor übermässigen
Preisschwankungen zu schützen, gewähren viele EU-Staaten für neue Kraftwerke
Minimalvergütungen – deren Höhe wird mittels wettbewerblicher Auktionen
ermittelt. Immer öfter können Wind- und Solarparks auch ohne solche
Unterstützungen gebaut werden, indem der Strom in Direktabnahme-Verträgen
zwischen Produzierenden und Verbrauchenden gehandelt wird. Dies ist attraktiv
für beide Seiten: Wer produziert, hat eine kalkulierbare Rendite – wer kauft,
tiefe und stabile Strompreise.
Kohle und Atom: Ausstieg ungewiss
Deutschland hat nach der Katastrophe von Fukushima den
Atomausstieg bis 2022 beschlossen. Für die Kohlekraft gab es lange keine
Regelung, was zum erwähnten Strom-Überangebot führte. Inzwischen steht fest,
dass der Kohleausstieg bis 2038 vollzogen werden soll – allein zwischen 2017
und 2018 ist die Kohleverstromung um über 8 % zurückgegangen. Viele europäische
Länder verfügen über konkrete Ausstiegspläne für ihre Kohle- und
Atomkraftwerke. Für die Schweizer Atomkraftwerke hingegen besteht eine
unbefristete Betriebsbewilligung. Die Schweiz ist im europäischen Vergleich
bezüglich Ausbau der Erneuerbaren im Hintertreffen: Von allen EU-Ländern
produzieren nur Ungarn, Slowenien, die Slowakei und Lettland noch weniger
Solar- und Windstrom pro Kopf. Ein rascher Ausbau tut Not.
Produzieren statt importieren
Die Schweiz darf sich nicht darauf verlassen, Windstrom aus
Deutschland importieren zu können. Viel sicherer ist eine einheimische
Versorgung. Und auch günstiger – je nachdem, wie der europäische Strommarkt
geregelt ist. Damit die Schweiz als gleichberechtigter Partner am europäischen
Marktmodell teilhaben kann, muss nämlich zuerst ein Stromabkommen mit der EU
abgeschlossen werden. Ohne institutionelles Rahmenabkommen jedoch will die EU
ein solches nicht unterzeichnen …
Die Schweiz kann zum Sonnenland werden: Das Potenzial ist mehr
als genügend, wenn man Gebäude und andere Infrastruktur nutzt. Auf Schweizer
Hausdächern und an Fassaden könnten gemäss Bundesamt für Energie jährlich 67
Terawattstunden (TWh) Solarstrom erzeugt werden – was den heutigen Strombedarf
klar übersteigt. Zusätzlich können laut dem Fachverband für Sonnenenergie,
Swissolar, auf Lärmschutzwänden, Staumauern, Lawinenverbauungen und weiteren
bereits stehenden Infrastrukturen mindestens 15 TWh produziert werden. Was
fehlt, ist der politische Wille.
Wie viel Solarstrom braucht die Schweiz?
Heute werden in der Schweiz pro Jahr rund 2 TWh Solarstrom
produziert – das entspricht 3,4 % des Verbrauchs. Um den Atomstrom zu ersetzen,
werden rund 23 TWh benötigt. Die Elektrifizierung des Verkehrs und der Gebäude
beanspruchen in Zukunft je nach eingesetzter Energieeffizienz weitere 17 bis 40
TWh Strom.
Der Flugverkehr allerdings ist in diesen Rechnungen noch nicht
inbegriffen. Um das von Herrn und Frau Schweizer verbrauchte Kerosin zu
synthetisieren, wären 132 TWh Strom pro Jahr nötig. Eine solch grosse Menge
Solarstrom im Inland herzustellen, ist ökologisch unsinnig. Hier muss
stattdessen ein Umdenken stattfinden: Die meisten Flüge werden privat getätigt
und peilen Destinationen innerhalb Europas an. Mit überlegterem Verhalten und
besserem Nachtzug-Angebot lässt sich der Bedarf an Flugtreibstoffen massiv
reduzieren.
Handlungsbedarf bei der Politik
Die energiepolitischen Ziele im Energiegesetz bilden diese
Herausforderungen nicht ab: Es sieht 11,4 TWh neue erneuerbare Energien bis
2035 vor. Damit wäre nicht einmal die Hälfte des Atomausstiegs geschafft. Die
Schweizerische Energie-Stiftung fordert eine Erhöhung dieses Ziels auf 26 TWh –
und ein zusätzliches Ziel von 45 TWh bis 2050, das mit den Pariser Klimazielen
kompatibel ist.
In den letzten zehn Jahren stieg die aus dem
Netzzuschlagsfonds finanzierte Produktion um durchschnittlich 0,4 TWh pro Jahr.
In diesem Tempo dauert es 65 Jahre, bis die Atomkraftwerke ersetzt sind. Der
Ausbau-Stau rührt von fehlenden politischen Rahmenbedingungen her.
In der Schweiz werden heute fast nur kleine
Photovoltaik-Anlagen gebaut, die mittels Einmalvergütungen finanziert werden
können. Der günstigste Strom jedoch könnte in mittleren und grossen Anlagen auf
Industrie- und Scheunendächern, Lärmschutzwänden oder Stauseen produziert
werden. Um solche Anlagen zu bauen und zu betreiben, benötigen Investoren Anreize
und Sicherheiten, die das heutige Fördersystem nicht bietet.
Die Hoffnungen auf entsprechende Vorschläge der
Energieministerin Simonetta Sommaruga und des neu gewählten Parlaments sind
gross. Ob sich entsprechende Mehrheiten finden, ob Klimapolitik und Energiepolitik
endlich gemeinsam gedacht werden, bleibt abzuwarten.
Dieser Text wurde erstmals im März 2020 in der Auto-Umweltliste publiziert.