Überholen – die Krux mit dem Abstand

Überholmanöver durch Lieferwagen oder Autos sind für Velofahrende oft unangenehm oder gar gefährlich. Damit diese sicher an ihr Ziel kommen, sollten Lieferwagenfahrerinnen und Autofahrer beim Überholen immer einen Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 Metern einhalten.

  • Christine Steinmann, VCS-Expertin für Verkehrssicherheit
  • 7. November 2021
Werden Velofahrerinnen von einem grösseren Fahrzeug überholt, müssen sie Druckschwankungen ausgleichen. Dafür brauchen sie genügend Platz.
Bild: Alamy - format4


Tagtäglich kommt es zu Tausenden Überholvorgängen zwischen dem schnellen motorisierten Verkehr und dem langsameren Veloverkehr. Viele Velofahrende wünschen sich laut einer Umfrage des VCS Verkehrs-Club der Schweiz grössere Überholabstände – gerade Überholmanöver durch grosse Fahrzeuge lösen Angst aus. Damit die ungeschützten Radelnden nicht in Gefahr geraten, braucht es bei allen Überholmanövern einen Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 Metern. Kein einfaches Unterfangen, herrschen doch auf Schweizer Strassen limitierte Platzverhältnisse — Velos, E-Bikes, Autos sowie Last- und Lieferwagen begegnen sich auf entsprechend engem Raum.

Die Unfallstatistik zeigt: Bei Überholmanövern kommt es immer wieder zu Stürzen. Bei 9 % der Velounfälle mit schweren Personenschäden werden «Überholen» oder «Vorbeifahren» als Unfalltyp angegeben. Doch auch ohne dass es zu einem Sturz kommt, gibt es immer wieder kritische Situationen. Oft gelingt es den Velofahrenden, mit Ausweichmanövern das Schlimmste zu verhindern. Begehen sie dabei Fahrfehler, kann dies zu vermeintlichen Selbstunfällen führen. So oder so erleben zu eng überholte Velofahrerinnen einen grossen Schreck. Damit sich auch die schwächsten Verkehrsteilnehmenden sicher fühlen, braucht es viel Geduld und Respekt von Seiten der Autofahrenden.

Labiles Gleichgewicht

Velo- oder E-Bike-Fahrer sind auf zwei Rädern unterwegs. Dadurch befinden sie sich in einem labilen, dynamischen Gleichgewicht. Eine Geradeausfahrt bedeutet ein kaum bemerkbares Pendeln über der Gleichgewichtsachse und führt zu geringen, manchmal beobachtbaren Schlangenlinien. Diese kleinen, seitlichen Bewegungen benötigen

Raum. Wie gross dieser ist, hängt von Faktoren wie Geschwindigkeit, Fähigkeiten des Fahrenden und äusseren Einflüssen wie Wind oder Strassenbeschaffenheit ab. Kinder machen beispielsweise aufgrund ihres noch nicht sicheren Fahrverhaltens viel deutlichere Lenkbewegungen beim Geradeausfahren als geübte Erwachsene. Um seitliche Bewegungen korrigieren zu können, müssen Velofahrende mit einem genügend grossen Abstand zum rechten Strassenrand fahren – wenn möglich mindestens 70 cm.

Tückische Druckschwankungen

Überraschend und damit tückisch sind zudem Bewegungen der Luft. Überholt ein Fahrzeug eine Velofahrerin, entstehen Druck- und Sogwellen. Fahrzeuglenkende spüren diesen Effekt im Inneren des Fahrzeuges nicht und sind sich daher oft nicht bewusst, welche Wirkung er auf die soeben überholte Velofahrerin hat. Sie muss nämlich diese Druckschwankungen ausgleichen. Das macht oft markante Schlenker nötig, um das Gleichgewicht halten zu können. Die Druck- und Sogwellen sind umso heftiger, je schneller das überholende Fahrzeug fährt, je grösser es ist und je geringer der Abstand zur überholten Velofahrerin ist. Diese physikalische Gesetzmässigkeit macht einen genügend grossen Überholabstand zwingend.

Theorie versus Empfinden

Strassenanlagen werden aufgrund klarer Normen- und Regelwerke geplant und erstellt. Eine zweispurige Fahrbahn oder ein Velostreifen – alle haben sie bestimmte Abmessungen. Diese werden aufgrund objektiver, theoretischer Gegebenheiten wie Fahrzeugbreiten, minimale Sicherheitsabstände etc. berechnet. Sie richten sich jedoch nicht danach, wie ein Mensch empfindet, wenn er im Verkehr ungeschützt unterwegs ist.

Es ist wissenschaftlich belegt, dass jeder Mensch eine «persönliche Distanz» von rund 1,2 Metern hat. Wird dieser Bereich verletzt, löst dies Unbehagen aus – umso beklemmender, je grösser und schneller das überholende Fahrzeug ist. Die Bemessungen der Velostreifen tragen diesem Umstand keine Rechnung. Zudem vermitteln sie den Fahrzeuglenkenden fälschlicherweise das Signal, sie hätten genügend Abstand zu den Velofahrenden, wenn sie links der Markierung bleiben. Wichtig ist jedoch der Abstand zu den Velofahrenden, nicht zur Markierung.

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Für sichere Überholmanöver braucht es 1,5 Meter Sicherheitsabstand – unabhängig von Strassenmarkierungen.

Unklare Gesetzeslage

Ein Blick ins Strassenverkehrsgesetz klärt die Lage nur bedingt: Einen exakten seitlichen Mindestabstand beim Überholen sucht man vergeblich. Es steht lediglich – in allgemein formulierter Art und Weise –, dass gegenüber allen Strassenbenutzern ein ausreichender Abstand zu wahren, und besondere Rücksicht zu nehmen sei.

Klare Regelungen kennt dagegen das nahe Ausland. So gilt in Deutschland gemäss Strassenverkehrsordnung: Beim Überholen mit Kraftfahrzeugen von zu-Fuss-Gehenden und Radfahrenden beträgt der ausreichende Seitenabstand innerorts mindestens 1,5 m und ausserorts mindestens 2 m. Wer dies nicht einhält, riskiert eine Anzeige wegen Gefährdung des Strassenverkehrs oder Nötigung.

Empfehlung für Chauffeure

Gegenseitiges Verständnis und Respekt bilden die Grundlage für die sichere gemeinsame Nutzung des Verkehrsraums. Seien Sie sich bewusst, dass Überholmanöver mit wenig seitlichem Abstand bei Velofahrenden Stress und Unbehagen auslösen — und sie gefährden.

Unsere Ratschläge: Überholen Sie grundsätzlich nur, wenn die Situation es zulässt, mindestens 1,5 Meter Abstand zum Radfahrer einzuhalten. Vor unübersichtlichen Kurven oder Engpässen, beispielsweise Mittelinseln, unter keinen Umständen überholen – warten Sie im Zweifelsfall. Reduzieren Sie in jedem Fall das Tempo und überholen Sie langsam.

E-Bike- und Rennvelofahrer sind besonders schnell unterwegs. Um Kollisionen mit ihnen zu vermeiden, überholen Sie nicht, wenn Sie in Kürze abbiegen wollen. Schlaglöcher, Steine oder andere Hindernisse zwingen Zweiradfahrer dazu, auszuweichen – rechnen Sie insbesondere auf schlechten Strassen jederzeit mit unerwarteten Schlenkern. Verzichten Sie aufs Hupen; es erschreckt die Velofahrenden unnötig.

Deshalb: Überholen Sie stets respektvoll und mit mindestens 1,5 Metern Abstand. Mit Geduld und Rücksichtnahme schaffen Sie Vertrauen. Die Velofahrerinnen und Velofahrer danken es Ihnen!

Weitere Informationen: www.1m50.ch


Dieser Text wurde erstmals im Mai 2020 in der Lieferwagen-Umweltliste publiziert.