Elektro-Reichweite: Was gilt?

Der Energieverbrauch und die Reichweite variieren je nach Fahrstil, Streckentyp und klimatischen Bedingungen stark. Wer sparsam fährt, kann die Normwerte durchaus erreichen.

  • Luca Maillard
  • 12. September 2022
Auf dem Armaturenbrett eines Elektroautos werden sowohl die verbleibende Reichweite als auch der Verbrauch in Echtzeit angezeigt.
Bild: Volkswagen


Bei Stammtischdiskussionen über Elektroautos sind kritische Einschätzungen so sicher wie das Amen in der Kirche: «Die tatsächliche Reichweite ist ungenügend» oder auch: «Im Winter verdoppelt sich der Verbrauch wegen der Kälte.» In der Regel stammen diese Aussagen von Leuten ohne konkrete Erfahrung mit einem Elektroauto. Was also ist von solchen Meinungen zu halten? Wie stark weichen Verbrauch und Reichweite von den Werten ab, die die Hersteller angeben – und was sind die Gründe dafür?

Fahrstil entscheidend

Laut Bruno Fankhauser, Leiter Operations und Mitglied der Geschäftsleitung von Post Company Cars AG, kann der tatsächliche Stromverbrauch eines Personenwagens schnell einmal 20 Prozent über dem offiziellen Wert liegen. Bei Nutzfahrzeugen steigt die Abweichung gar auf bis zu 40 Prozent an. Dies zeigt sich in der Analyse von Firmenfahrzeugen, die von verschiedenen Personen verwendet werden: «Für ein und dieselbe Tour weist ein Fahrzeug an einem Tag einen sehr niedrigen Verbrauch aus und am Tag darauf einen sehr hohen. Eine andere Person am Steuer, eine Streckenänderung und eine andere Beladung sind die Gründe dafür.»

Der tatsächliche Stromverbrauch kann 20% über dem offiziellen Wert liegen.

Die Analyse zeigt, wie wichtig es ist, die Empfehlungen des Herstellers zu befolgen und sich eine sparsame Fahrweise anzugewöhnen.

Offizieller Verbrauch auf Autobahnen wenig aussagekräftig

Wer ein Elektroauto fährt, macht die Erfahrung, dass der Verbrauch auf Autobahnstrecken klar über dem Normwert liegt und die Reichweite entsprechend sinkt. Erklären lässt sich dies zumindest teilweise mit dem Design des offiziellen Testverfahrens WLTP (siehe Kastentext). Bei diesem Test wird meist bei mässiger Geschwindigkeit gefahren, durchschnittlich 45 km/h, und nur kurz auf über 100 km/h beschleunigt. Der offizielle Wert gibt also keine reine Autobahnstrecke wieder, bei welcher der Verbrauch aufgrund physikalischer Gesetze natürlich höher ist. Bei langen Fahrten auf Schnellstrassen ist die angegebene Reichweite um rund einen Fünftel nach unten zu korrigieren. Zusammengefasst sagt Bruno Fankhauser: «Der offizielle Wert kann erreicht werden, wenn alle Bedingungen ideal sind, aber nicht langfristig. Viele Faktoren neben der Geschwindigkeit - zum Beispiel einfach eine schwere Beladung des Fahrzeugs - machen einen höheren Verbrauch als den Normwert und damit eine geringere Reichweite fast unvermeidlich.»

Die Lieferwagen der Post werden von Post Company Cars AG betreut, dem grössten markenunabhängigen Flottenmanager der Schweiz. Bild: Die Post


Reichweite hängt von der Temperatur ab

Zusätzlich zum Fahrstil und zur Art der Strecke beeinflusst noch ein letzter Faktor die Reichweite, und zwar die im vollen «Tank» tatsächlich zur Verfügung stehende Energie. Die Batteriekapazität hängt nämlich von der Umgebungstemperatur ab und sinkt bei tiefen Temperaturen ziemlich stark. Tests wiesen bei Temperaturen um null Grad eine durchschnittliche Reduktion der Reichweite von rund einem Fünftel nach. Hohe Temperaturen im Sommer haben weniger markante Auswirkungen, obwohl die Kühlung des Fahrgastraums viel Energie verschlingen kann. Die Klimaanlage ist deshalb mit Bedacht einzusetzen und das Fahrzeug idealerweise geschützt vor sehr hohen oder tiefen Temperaturen abzustellen.

Eine möglichst kleine Batterie wählen...

Aus technischer Sicht erlaubt eine grosse Batterie grundsätzlich eine hohe Reichweite. Eine grössere Batterie verursacht allerdings bei der Herstellung mehr Schäden an Natur und Gesundheit. Vor dem Kauf eines Elektrofahrzeugs lohnt es sich deshalb, sich über dessen hauptsächliche Verwendung Gedanken zu machen. So lässt sich ein Modell wählen, dessen tatsächliche Reichweite passt, ohne dass man mit einer überdimensionierten Batterie herumfährt.

Ein effizientes Modell ermöglicht auch mit einer kleinen Batterie eine ansprechende Reichweite.

VCS-Projektleiterin Anette Michel ruft in Erinnerung, wie wichtig die Energieeffizienz ist: «Wer ein Modell mit geringem Verbrauch wählt, verfügt auch bei einer Batterie mit bescheidener Kapazität über eine ansprechende Reichweite.» Diese Überlegungen sind nicht nur für die Umwelt von Belang, sondern auch für den Geldbeutel, weil sowohl der Anschaffungspreis als auch die Energiekosten entsprechend geringer ausfallen.

...und die Reichweite erhöhen

Durch eine sparsame Fahrweise – etwa gemäss den EcoDrive-Empfehlungen – lässt sich der Energieverbrauch spürbar verringern und die Reichweite unter Idealbedingungen um bis zu einem Fünftel erhöhen. «Wir haben festgestellt, dass sich das Fahrverhalten mit der Zeit und mit zunehmender Erfahrung verbessert und die Energieeinsparungen zunehmen. Die Schweizer Post leistet mit Fahrtrainings und Informationen einen weiteren Beitrag zur Nachhaltigkeit», schliesst Bruno Fankhauser mit einer positiven Note. Konkret geht es nicht nur darum, im «Eco»-Modus und vorausschauend zu fahren, sondern auch auf den richtigen Pneudruck zu achten, jegliche unnötige Beladung zu vermeiden sowie Klimaanlage und Heizung vernünftig einzusetzen. Wer auf der Autobahn mit etwa 100 km/h unterwegs ist und die Geschwindigkeit idealerweise mit dem Tempomat hält, kann ebenfalls noch etliche Kilometer herausholen.

WLTP-Messverfahren

Der offizielle Verbrauchswert wird bei einem Test unter Laborbedingungen gemäss dem weltweit einheitlichen Leichtfahrzeuge-Testverfahren (WLTP) ermittelt. Es beruht auf einer standardisierten Strecke, die eine Fahrt mit vielen Beschleunigungen innerorts und einem Anteil ausserorts mit höherer Geschwindigkeit und weniger Stop-and-go simuliert. Der Test wird bei Raumtemperatur durchgeführt. Klimaanlage, Heizung, Radio usw. bleiben ausgeschaltet. Die Energieverluste im Zusammenhang mit dem Aufladen werden im Messverfahren hingegen berücksichtigt.

Der offizielle Wert für die Reichweite wird auf der Grundlage des Energieverbrauchs gemäss WLTP berechnet. Die Ladeverluste sind bei der Reichweite nicht einberechnet.